Mangelnde Expertise im Aufsichtsrat: Volkswagen ist erst der Anfang
Nachhaltigkeit ist zum Trendthema in deutschen Unternehmen geworden. Auslöser dafür war aber nicht in erster Linie die Einsicht, dass die Wirtschaft massiv zum Klimawandel beiträgt und die ökologische Transformation neue, profitreiche Geschäftsfelder verspricht. Den Anstoß haben vor allem neue Gesetze wie die komplexe Corporate Sustainability Reporting Directive
gegeben. Dieser Fokus auf Regularien hat dazu beigetragen, dass viele Unternehmen Nachhaltigkeit immer noch als lästige Pflichtübung betrachten, die sie nur abhaken müssen.ist Professor für nachhaltiges Management an der Fernhochschule IU Internationale Hochschule. Zudem arbeitet er als Keynote-Speaker und Unternehmensberater, etwa als External Advisor für Bain & Company. 2015 entwickelte er das erste Messinstrument für die UN-Nachhaltigkeitsziele.Dabei verschenken sie immenses Potenzial, sich im Wettbewerb auf lukrative Wirtschaftstrends auszurichten und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Anders gesagt: Das Thema Nachhaltigkeit muss raus aus der bloßen Compliance und rein in die Strategie, wo Unternehmen es konsequent verfolgen sollten.Staaten wie China investieren derzeit massiv in grüne Technologien. Dadurch verschaffen sie sich Wettbewerbsvorteile auf den globalen Märkten. Deutsche Unternehmen hingegen müssen staatliche Subventionen, wie sie in anderen Ländern üblich sind, durch Pioniergeist kompensieren. Dieser hatte einst die deutsche Wirtschaft groß gemacht. Doch beim Thema Nachhaltigkeit ist er in vielen Unternehmen Mangelware.Auch die oft allzu passive Rolle der Aufsichtsräte hat erheblich zu diesem Problem beigetragen: Viele Gremien werden ihrer besonderen Verantwortung schlichtweg nicht gerecht. Dabei sollten gerade sie eigentlich den Rahmen setzen und grundlegende Orientierung bieten, während das Management die Strategie definiert und umsetzt. Aber sind sie dafür überhaupt kompetent aufgestellt? Der Aufsichtsrat muss in der Lage sein, vernunftwidriges Handeln klar zu benennen – „to call bullshit“, wie es im Englischen heißt –, um Risiken für das Unternehmen zu identifizieren.Beim Thema Nachhaltigkeit gibt es davon viele. Die Deutsche-Bank-Tochter DWS etwa zahlte kürzlich eine zweistellige Millionenstrafe für Greenwashing. In der Praxis aber setzen viele Unternehmen allzu voreilig in den Kompetenzprofilen ihrer Aufsichtsratsmitglieder einen Haken hinter „Nachhaltigkeit“, obwohl sich das Wissen darüber nicht in einem kurzen Crashkurs erlernen lässt.Beispiel Volkswagen: Im Aufsichtsrat von VW haben laut Selbstbeschreibung auf der Konzernwebsite 9 von 20 Mitgliedern besondere Kenntnisse im Bereich Nachhaltigkeit/ESG – Umwelt , Soziales und Governance. Trotzdem hat der Automobilkonzern den nachhaltigen Megatrend Elektromobilität verschlafen und zahlt dafür nun einen hohen Preis. Solche Beispiele, so meine Befürchtung, werden sich in Zukunft häufen, und sie werden weit über die Autobranche hinausgehen.Einer Analyse des European Center for Board Effectiveness zufolge behaupten sogar zwei Drittel der Aufsichtsräte, Fachkompetenz im Bereich Nachhaltigkeit zu haben. Der Begriff „Competence Washing“ macht die Runde. Wahre Nachhaltigkeitskompetenz bedeutet aber, aus dem Dreiklang von technologischen Disruptionen, neuen Gesetzen und sich wandelnden Kundenwünschen einen echten Wettbewerbsvorteil für das Unternehmen zu machen.Es ist an der Zeit, dass Aufsichtsräte Veränderungen anstoßen. Sie müssen die Führungsetagen der Unternehmen stärker dazu inspirieren, innovative und nachhaltige Geschäftsmodelle zu entwickeln. Dafür müssen sie die Prinzipien des nachhaltigen Wirtschaftens in alle Entscheidungsprozesse einbeziehen und konsequent umsetzen. Denn Nachhaltigkeit ist mehr als nur „la dernière mode“ – sie ist strategische Kernaufgabe und ein wesentlicher Bestandteil zukunftsfähiger Geschäftsmodelle auf dem internationalen Markt.Exklusive Studie:Dax-Konzerne haben kaum Ökokompetenz im AufsichtsratVon Martin NoéNachhaltigkeit:Wo der Klimawandel Chancen bietetVon Ravi Chidambaram und Parag KhannaVerhaltensökonomie:Mit Nudging zu mehr Klimaschutz – Porsche macht es vor•Exklusive Studie:Dax-Konzerne haben kaum Ökokompetenz im AufsichtsratVon Martin Noé•Nachhaltigkeit:Wo der Klimawandel Chancen bietetVon Ravi Chidambaram und Parag Khanna•Verhaltensökonomie:Mit Nudging zu mehr Klimaschutz – Porsche macht es vorFür Klimaneutralität notwendig sind langfristige Anreize, die auch die finanziellen Interessen der Investoren berücksichtigen. Auf den Hauptversammlungen nehmen Investoren solche Schritte übrigens positiv auf. Es reicht aber nicht aus, ESG-Kriterien nur oberflächlich zu betrachten oder Vergütungssysteme einzuführen, die das Management für relevante ESG-Ziele belohnen.Nachhaltigkeit muss in der DNA des Unternehmens verankert sein. Das funktioniert aber nur, wenn Aufsichtsräte profunde Kenntnisse vorweisen kön-nen – durch kompetentes Personal und umfassende Weiterbildungen, gepaart mit größerer Dynamik durch kürzere Verweildauer und ein jüngeres Durchschnittsalter der Mitglieder. Der vielerorts vorherrschende allzu nachlässige Umgang mit dem Thema Nachhaltigkeit setzt nicht nur die Zukunft von Unternehmen aufs Spiel, sondern auch die des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Nachhaltige Geschäftschancen sind dagegen der Schlüssel, um in einer sich rasant wandelnden Welt erfolgreich zu bleiben.Jake MichaelsEinsamkeitWarum sie für Unternehmen ein Problem ist – und wie ein neues Wirgefühl ensteht