Vor der Bundestagswahl: Deutschland muss raus aus der Opferrolle

Nobody told me there’d be days like these – John Lennon .Wir haben uns an negative Überraschungen gewöhnt. Das ist wenig verwunderlich, schließlich waren die vergangenen Jahre voll davon.Ein unheimliches Virus befällt die Menschheit . Wladimir Putins Russland überfällt die Ukraine . Die Inflation zehrt an der Kaufkraft und erreicht in der Spitze Werte um 9 Prozent . Die Bundesregierung scheitert am selben Tag, an dem Donald Trump als US-Präsident wiedergewählt wird . Seither stolpert Deutschland führungslos durch die Weltgeschichte, während Trump als personifizierte Abrissbirne die amerikanische Verfassung und die internationale Ordnung demoliert .Strange days indeed, wie John Lennon im eingangs zitierten Song dichtete.ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des s. Müller ist Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für das gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse und schreibt die Kolumne „Magisches Viereck“.Geschockt und deprimiert gehen die Bundesbürger am kommenden Sonntag zu den Wahlurnen. Die Umfragen der Demoskopen offenbaren einen tiefen Pessimismus. Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Landes, seiner Institutionen und seiner Wirtschaft schwindet. Nichts geht mehr. Nichts gelingt mehr. Das jedenfalls ist das kollektive Selbstbild.Kann es immer nur noch schlimmer werden? Ja, absolut. Muss es so kommen? Nein, natürlich nicht. Es könnte sich auch eine Kette positiver Entwicklungen einstellen. Im zweiten Fall ergäbe sich ein einigermaßen optimistisches Szenario für Deutschland und Europa.Klar ist aber auch: In die vergleichsweise ruhige Welt der zurückliegenden drei Jahrzehnte werden wir zurückkehren. Politische Polarisierung, Protektionismus und Imperialismus werden weiterhin die Entwicklung prägen, ebenso Klimaerwärmung, die Alterung der Gesellschaften und die Digitalisierung. Das wahre Problem jedoch ist unsere Unfähigkeit, die Institutionen so umzubauen, dass wir in der Lage sind, mit den Herausforderungen um uns herum klarzukommen. Wir stecken in einer selbst gestellten Falle. Und die Bundestagswahl eröffnet die Chance, daraus zu entkommen.„Elektroschocks“ und andere UnannehmlichkeitenImmerhin ist es denkbar, dass Deutschland und die EU insgesamt durch den äußeren „Elektroschock“ der Trump-Präsidentschaft in eine neue Realität gestoßen werden, wodurch sich bisherige Blockaden überwinden lassen. Wir könnten entscheidende Schritte machen zu weiterer Integration und Autonomie Europas – zur Fähigkeit der Selbstbehauptung gegenüber imperialen Mächten wie China, Russland und neuerdings den USA.Statt verängstigt vor den geopolitischen Zumutungen zu erzittern, könnte Europa zu einem selbstbewussten Akteur werden und aktiv daran mitarbeiten, Wohlstand, Frieden und Klima zu schützen.Zugegeben, bislang scheinen wir von einem solchen Zustand weit entfernt zu sein. Nationalisten und Rechtspopulisten sind erstarkt; in vielen Ländern sind sie an den Regierungen beteiligt. Viele von ihnen wollen die Integration zurückdrehen und den Nationalstaaten mehr Autonomie verschaffen. Einige, wie Viktor Orban in Ungarn und Robert Fico in der Slowakei, hintertreiben aktiv eine gemeinsame EU-Linie. Frankreich, das zweitgrößte Mitgliedsland, steht seit Sommer ohne regierungstüchtige Parlamentsmehrheit da, dafür aber mit prekärer Haushaltslage. Nordstaaten wie die Niederlande wollen eine stärkere Vergemeinschaftung der Staatsfinanzen verhindern. Westliche Mitgliedstaaten wie Italien und Spanien geben viel zu wenig fürs Militär aus, während Mittelosteuropäer wie Polen und Balten sich von Russland bedroht und von den westlichen Partnern alleingelassen fühlen.Mittendrin in diesem auseinanderstrebenden Kontinent sind wir: die Bundesrepublik – Kernland der EU mit einem Sechstel der Bevölkerung und einem Viertel der Wirtschaftsleistung. Seit fünf Jahren verzeichnen wir kein Wachstum mehr und verzagen an uns selbst. Die Industrie schrumpft, die Infrastruktur bröckelt, die Bundeswehr ist nicht einsatzbereit. Schulen und Hochschulen, ohnehin nicht gerade glänzend ausgestattet, stehen Sparrunden bevor.Alle warten auf Deutschland, weil ohne uns in der EU nichts vorangeht. Aber bislang warten die anderen vergeblich, weil dieses Land – und seine politische Klasse – vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Unter Kanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner galt Deutschland in Brüssel als Dauerbremse, nicht als Antreiber oder gar als Inspiration.Was den Bürgern auf der Seele liegtSo in der Art verlief auch der Bundestagswahlkampf. Die diesjährigen Politkampagnen vermittelten den Eindruck eines Discount-Wettbewerbs. Leider war dies wieder eher ein Verteilungs- als ein Gestaltungswahlkampf 
.Europa spielte keine Rolle. Dabei sind die Themen, die die Bürger umtreiben, auf nationaler Ebene allein nicht lösbar. Frieden und Sicherheit sowie die wirtschaftliche Entwicklung, so das letzte ZDF-Politbarometer vor dem Wahltermin 
, dominieren die nationale Sorgenskala. Das Aufregerthema Asyl, das im Wahlkampf so viel Aufmerksamkeit erhalten hat, rangiert deutlich niedriger auf der Prioritätenliste, etwa gleichauf mit der Klimaproblematik.Also, wie könnte ein optimistisches Szenario aussehen?Druck von außen schweißt zusammenNehmen wir an, dass am kommenden Sonntag eine stabile Zweiparteienkoalition eine Mehrheit bekommt. Angesichts der Umfragen ist das zumindest im Bereich des Möglichen. Union/SPD oder Union/Grüne fokussieren sich aufs Wesentliche, also Wirtschaft und Verteidigung, und werfen dafür einige überholte Glaubenssätze über Bord. Denn die äußere Bedrohung durch russische Raketen, amerikanische Zölle und chinesische Subventionen schärft den Blick für Prioritäten.Die Regierung schafft es, die nationalen Staatsfinanzen auf eine langfristig tragfähige Grundlage zu stellen, indem sie die Beschäftigung trotz der demografischen Perspektiven stabil hält, insbesondere durch eine Stärkung der Arbeitsanreize für Ältere und Teilzeitbeschäftigte.Parallel dazu ringt sie sich zu einer Lockerung der Schuldenbremse und des EU-Stabilitäts- und Wachstumspakts durch, was angesichts der notwendigen Investitionen ins Militär unabweisbar ist. In den Jahren zuvor war dies am Widerstand der Priester der deutschen Fiskalorthodoxie gescheitert.Womöglich wären die Zielverfehlungen in den Staatshaushalten gar nicht so groß. Denn zusätzliche Verteidigungsausgaben, verbunden mit einem Ausbau der europäischen Hightech-Rüstungswirtschaft, könnten in der EU das Wirtschaftswachstum entscheidend anschieben, zeigt eine aktuelle Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft . Somit würden sich die zusätzlichen Ausgaben zumindest teilweise selbst finanzieren.Gemeinsam mit der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen sowie den Regierungen der anderen großen Mitgliedstaaten Frankreichs, Polens, Italiens und Spaniens – bislang sämtlich von kooperationswilligen Regierungen geführt – treibt die neue Bundesregierung eine europäische Reformagenda voran. Dadurch wird die EU insgesamt dynamischer und handlungsfähiger.Die Blaupause dafür bietet der Draghi-Report vom September. Vorbild für die Runderneuerung sind die 80er-Jahre, als binnen weniger Jahre die Grundlagen von Binnenmarkt und Währungsunion entstanden. Da Europa bislang große Teile seiner Potenziale nicht nutzt, könnten die Auswirkungen ziemlich spektakulär positiv sein , gerade im Vergleich zu den USA und China, die beide nicht gerade auf solidem Fundament stehen.Kollektive UnsicherheitIm Idealfall würde es der nächsten Bundesregierung gelingen, Europas chronisches collective action problem zu überwinden. 27 Mitgliedstaaten – plus zusätzliche Spieler an der Peripherie – schaffen es zu häufig nicht, sich zusammenzuraufen. In Europa gibt es keine natürliche Hegemonialmacht und auch keine stark legitimierte zentrale Unionsebene. Es existiert somit keine Instanz, die in der Lage wäre, die anderen zu gemeinsamem Handeln anzutreiben.Den letzten großen Reformschritt gab es in den 80ern. Damals hatte die Gemeinschaft zwölf Mitgliedstaaten und wurde angeführt vom eng abgestimmten deutsch-französischen Duo. Seither hat sich die EU ausgeweitet und vertieft, aber ihre Strukturen nicht systematisch weiterentwickelt. Seit die Verfassung 2005 in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden scheiterte, gab es keine ernsthaften Versuche mehr in dieser Hinsicht.Bundestagswahl 2025: Warum Deutschland ein Programm gegen den Niedergang brauchtEine Kolumne von Henrik MüllerVor dem EU-Krisengipfel: Wir haben keine Zeit zu verlierenEine Kolumne von Henrik MüllerKrise? Welche Krise?: Der Discounter-WahlkampfEine Kolumne von Henrik MüllerVor der EZB-Zinsentscheidung: Deutschland, der Ballast EuropasEine Kolumne von Henrik Müller•Bundestagswahl 2025: Warum Deutschland ein Programm gegen den Niedergang brauchtEine Kolumne von Henrik Müller•Vor dem EU-Krisengipfel: Wir haben keine Zeit zu verlierenEine Kolumne von Henrik Müller•Krise? Welche Krise?: Der Discounter-WahlkampfEine Kolumne von Henrik Müller•Vor der EZB-Zinsentscheidung: Deutschland, der Ballast EuropasEine Kolumne von Henrik MüllerEverybody is running and no one makes a move, heißt es in dem eingangs zitierten John-Lennon-Song. Das beschreibt den europäischen Modus ganz gut. Strange days indeed.Es ist nur so: Angesichts der zugespitzten Sicherheitslage genügt das nicht mehr. Der Druck, sich enger zusammenzuschließen, nimmt massiv zu. Dieser Logik können sich eigentlich auch Europas Nationalpopulisten nicht entziehen: Letztlich werden auch sie sich nicht darauf verlassen wollen, dass Trump oder Putin die Souveränität einzelner Klein- und Mittelstaaten achten.So gesehen kommt auf die nächste Bundesregierung eine historische Mission zu: Wir müssen widerstandsfähiger und dynamischer werden. Der Kanzler, dem das gelingt, ist ein gerahmter Platz in den Geschichtsbüchern sicher.Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden WocheMontagBrüssel – Nummer 21 – Treffen der Euro-Finanzminister. Unter anderem geht es um Bulgarien, das kommendes Jahr als 21. Mitgliedstaat den Euro einführen will.DienstagPotsdam – Teurerer Staat – Fortsetzung der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen.Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Elmos, Capgemini, InterContinental Hotels.MittwochBerichtssaison II – Geschäftszahlen von MTU Aero Engines, Hochtief, Carrefour, Rio Tinto, BAE Systems, HSBC, Glencore.DonnerstagJohannesburg – Rückzug von der Weltbühne – G20-Außenministertreffen in Südafrika . US-Außenminister Rubio hat seine Teilnahme abgesagt.Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Mercedes-Benz, Birkenstock, Repsol, Renault, Leonardo, Krones, Walmart, Alibaba.FreitagBerichtssaison IV – Geschäftszahlen von Standard Chartered, Air Liquide, BB BiotechSonntagBerlin – Tag der Wahrheit – Vorgezogene Bundestagswahl.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert