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Wirtschaftskolumne: Unklare Aussichten und innere Unruhe

Wenn Sie alt genug sind, erinnern Sie sich vermutlich daran, wo Sie am 11. September 2001 waren. Wie Sie vom terroristischen Anschlag auf das New Yorker World Trade Center erfuhren, vielleicht auch, was Sie dabei empfanden. Die Bilder haben sich eingebrannt ins kollektive Gedächtnis. Auch Jüngere kennen die Images. Sie markieren den Beginn des 21. Jahrhunderts – und das Ende einer Epoche relativer Gewissheit.Die Symbolik war atemberaubend. Die USA, die scheinbar unbezwingbare Megamacht, wurden auf ihrem eigenen Territorium angegriffen. Und die beiden Hochhaustürme, das ikonische Zentrum des amerikanischen Kapitalismus, hielten nicht stand, sondern fielen in sich zusammen und ließen Tausende Menschen in den Tod stürzen.Dabei hatte das neue Jahrtausend so hoffnungsfroh begonnen. Die Welt war in weiten Teilen demokratisch geworden. Diktaturen verschwanden, Grenzen öffneten sich. Neue Technologien – von Internet bis Biotech – versprachen enorme Wohlstandszuwächse. Von einer „New Economy“ war die Rede, einem Produktivitätsschub neuen Typs, einem Siegeszug der individuellen Freiheit, des Wohlstands und des Friedens.ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des s. Müller ist Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für das gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse und schreibt die Kolumne „Magisches Viereck“.Im Rückblick erscheinen die damals übergroßen Erwartungen hoffnungslos naiv. Es folgten weitere verstörende Ereignisse. Amerika und seine Verbündeten führten Kriege, zunächst in Afghanistan, dann im Irak. Konflikte, die sich nicht gewinnen ließen und viele Jahre später zu kopflosen Rückzügen führten.Sieben Jahre und vier Tage nach den Anschlägen vom 11. September kollabierte dann der amerikanische Finanzkapitalismus. Und zwar, ohne dass es einer Attacke von außen bedurft hätte. Die Investmentbank Lehman Brothers ging unter und riss weite Teile des westlichen Finanzsystems mit sich. Die Krise von 2008/09 löste die tiefste internationale Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Der Westen, so konnte es scheinen, war im Innern faul und morsch. Das wirtschaftliche Nahtodereignis der Finanzkrise schien im Nachhinein den symbolträchtigen Einsturz der Twin Towers zu unterstreichen.Ereignisse und Entwicklungen, die inzwischen Stoff für die Geschichtsbücher sind. Ich rufe sie an dieser Stelle in Erinnerung, weil sie sich wie ein leises Präludium zum heutigen globalen Krisen-Crescendo ausnehmen. Große und im Trend steigende Unsicherheit ist zum ständigen Begleiter geworden. Man gewöhnt sich dran. Erst im Rückblick wird deutlich, wie drastisch sich die Welt verändert hat. Wo also stehen wir heute?Schlag auf SchlagWir erleben derzeit den zweitgrößten Unsicherheitsschock seit der Jahrtausendwende. Nur der Ausbruch von Covid-19 samt folgender Lockdowns und Grenzschließungen 2020 war noch gravierender, wie das Update des Unsicherheitsindikator für Deutschland zeigt, den unser Dortmunder Forschungszentrum DoCMA berechnet. Mehr noch, wir stecken in einer außergewöhnlichen Periode fest: Pandemie, Ukrainekrieg, Inflation, eine lange Phase innenpolitischer Instabilität, wie es sie seit Bestehen der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat, die erneute Wahl Donald Trumps und der Handelskrieg, den er losgetreten hat – es geht Schlag auf Schlag. Die vergangenen fünf Jahre sind turbulenter als alles, was wir seit Generationen erlebt haben.Vergleichbare Indikatoren  
zeigen ein ähnliches Muster für die USA, Großbritannien oder China. Während die zuvor globalisierte Welt sich konfliktreich in bislang unklare Macht- und Einflusssphären aufspaltet, teilen alle Nationen miteinander eine unerhörte Unvorhersehbarkeit, die tendenziell negative Auswirkungen auf die Wirtschaft hat.Unsicherheit behindert Unternehmen bei Investitionen, Konsumenten bei größeren Anschaffungen und staatliche Institutionen dabei, angemessen zu reagieren. Beim Frühjahrstreffen von Internationalem Währungsfonds und Weltbank in der bevorstehenden Woche wird dies eines der zentralen Themen sein.Robustes DeutschlandAnders als ähnliche Kennzahlen ermöglicht unser Uncertainty Perception Indicator eine Zerlegung in die unterschiedlichen Quellen von Unsicherheit. Das ist ein großer Vorteil: Wie sich ein Schock auf die Gesamtwirtschaft auswirkt, hängt insbesondere davon ab, aus welcher Richtung er kommt. In Zusammenarbeit mit Kollegen vom Essener Wirtschaftsforschungsinstitut RWI haben wir kürzlich nachgewiesen, dass die makroökonomischen Folgen höchst unterschiedlich sind .So kommt es, dass die eingangs erwähnten Unsicherheitsschocks der frühen 2000er Jahre vergleichsweise schwache negative Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft hatten. Auch die Finanzkrise von 2008 zog rasch an uns vorüber. Ähnliches gilt für die Eurokrise in den frühen 2010er Jahren und für den populistischen Doppelschlag des Jahres 2016 . Die deutsche Wirtschaft erwies sich damals gegenüber Schocks, die von außen kamen, als erstaunlich robust. Und dieses Mal?Der Zoll-Hammer – halb so schlimm?Die aktuelle deutsche Situation ist unserem Indikator zufolge insbesondere durch drei Entwicklungen geprägt:Erstens, die Unsicherheit, die von der geopolitischen Lage ausgeht, hat im März den höchsten Wert erreicht, den wir jemals gemessen haben.Trumps erratisches Agieren mit dem Zoll-Hammer trifft einerseits die exportorientierte deutsche Industrie ins Mark. Andererseits offenbart sich darin das Ende der US-geprägten internationalen Ordnung. Regeln und Institutionen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als gesetzt galten, erodieren in atemberaubendem Tempo.Es ist nur so: Unsere Analysen zeigen, dass geopolitische Verwerfungen – bislang – eher geringen direkten Einfluss auf die deutsche Wirtschaft gehabt haben. Klar, das muss nicht so bleiben, aber für das zurückliegende knappe Vierteljahrhundert sind die Auswirkungen geopolitischer Unsicherheit statistisch nicht signifikant.Zweitens, die gesellschaftliche Verunsicherung in Deutschland ist groß. Und dieser Faktor hat tatsächlich deutlich negative Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung.Über lange Zeiträume war die Bundesrepublik ein Hort der Verlässlichkeit: Still und starr ruhte das Land. Das änderte sich ab 2016, als die große Zahl an Zuwanderern und das damit verbundene Erstarken der AfD bei der Bundestagswahl 2017 die innenpolitischen Debatten bestimmten. Später trieben die Pandemie und die damit verbundenen Auseinandersetzungen um Lockdowns, Masken- und Impfpflicht diese Zeitreihe zu Höchstwerten. Der Krieg in der Ukraine, Streit um die Aufrüstung und grundsätzliche Fragen hinsichtlich der Tragfähigkeit der demokratischen Gesellschaftsordnung bei Nullwachstum und entsprechenden Verteilungskonflikten sorgten in den zurückliegenden Jahren für Aufregung.Aktuell zeigen unsere Analysen, dass Begriffe wie Demokratie, Ordnung, Vertrauen, Sicherheit, Verantwortung, Klimawandel, Migration die Debatten bestimmen.Drittens, was die deutsche Politik im engeren Sinne angeht, wurde die Bundesrepublik lange ausgesprochen stabil regiert. Trotz aufkeimendem Populismus gab es technokratische Mehrheiten, getragen von kooperationsfähigen Parteien in Bund und Ländern. Erst die Coronakrise beendete diesen Zustand der Dauerstabilität.Seither ist die nationale Politik nicht mehr zur gewohnten Ruhe zurückgekehrt. Das liegt zum einen an der außergewöhnlichen Ballung von Problemen, für die keine Lösungen in den Schubladen liegen, zum anderen aber auch an der zweifelhaften Performance der Ampelkoalition. Ein relatives Maximum erreichte die innenpolitische Unsicherheit, als das Bundesverfassungsgericht Ende 2023 die Rechtmäßigkeit der Verwendung der Nebenhaushalte in Frage stellte. Es folgten kopflose Sparrunden, heftige Proteste, Streit um Kleinigkeiten, schließlich der Bruch der Koalition. Dass sich all das vor der Kulisse eines verdunkelten geopolitischen Szenarios abspielte, dürfte die Wirkung noch verschlimmert haben.Geringe innenpolitische Unsicherheit ist ein positives SignalUnsere Datenreihen enden im März 2025. Enthalten sind noch die großen finanzpolitischen Weichenstellungen – Abschaffung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben, Schaffung eines 500-Milliarden-Euro-Sonderfonds für die Infrastruktur –, die Union, SPD und Grüne noch vor Ende der Legislaturperiode gewagt haben. Eine überraschende Kehrtwende, die sich in einem kleinen Ausschlag der entsprechenden Zeitreihe zeigt. Das Ende der Koalitionsverhandlungen jedoch ist nicht mehr berücksichtigt.Die zuletzt geringe innenpolitische Unsicherheit lässt sich als positives Signal werten. Dies ist der mit Abstand wichtigste Faktor, den unser Modell parat hält. Nichts hat mehr unmittelbaren Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung.Schwarz-rote Koalitionen haben dieses Land über viele Jahre ohne große Aufregung regiert, nicht ambitioniert, aber berechenbar. Deutschland und Europa mögen weit unter ihren Möglichkeiten geblieben sein. Es herrschte Merkelsche Ruhe.Auch die jetzige Neuauflage mit neuen Gesichtern stiftet nun offenkundig mehr Vertrauen als Verunsicherung. Inwieweit sich dies bei den Unternehmen niederschlägt, wird sich zeigen.Immerhin, der mutmaßliche künftige Bundeskanzler Friedrich Merz hat die radikal veränderten geo- und europapolitischen Notwendigkeiten zur Kenntnis genommen und daraus Schlüsse gezogen. Man kann das als Signal werten: Dies ist kein bloßes Weiter-so. Dies ist eine Regierung, die verstanden hat, was jetzt zu tun ist. Ob das genügt? Insbesondere beim Thema Wachstum und Beschäftigung bleibt die Koalition hinter den Notwendigkeiten zurück.Die Ereignisketten der vergangenen Jahrzehnte haben eindrucksvoll gezeigt, dass nicht nur Entscheidungen Langzeitfolgen haben, sondern auch Unterlassungen.Die wichtigsten Wirtschaftstermine der kommenden WocheDienstagBerichtssaison I – Geschäftszahlen von SAP, Tesla, Lockheed Martin, Northrop Grumman, Halliburton, Verizon, GE.Washington – Weltwirtschaftsalarm – Frühjahrstreffen von IWF und Weltbank, das die ganze Woche über andauert. Dienstag stellen IWF-Fachleute die beiden wichtigsten Analysewerke World Economic Outlook und Global Financial Stability Report vor. Trumps Schatten verdüstert beides – Konjunktur und Finanzstabilität.MittwochBerichtssaison II – Geschäftszahlen von Just Eat, Akzo Nobel, EssilorLuxottica, Danone, Kering, Volvo, Reckitt Benckiser, IBM, Boeing, AT&T, Whirlpool,DonnerstagBerlin – Kurz bevor der Vorhang fällt – Der scheidende Wirtschaftsminister Robert Habeck stellt die Frühjahrsprojektion der geschäftsführenden Bundesregierung vor.München – Lust, Last, Laune – Das Ifo-Institut veröffentlicht neue Zahlen des ifo-Geschäftsklimaindex für den Monat April.Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Schaeffler, Delivery Hero, Carrefour, Michelin, Accor, Nokia, Saint-Gobain, Thales, Air Liquide, Dassault, Sanofi, Orange, ENI, BNP Paribas, Nestlé, Anglo American, Unilever, Roche, Kühne & Nagel, Intel, Procter & Gamble, Merck & Co., Southwest Airlines, Dow, Bristol Myers Squibb, Pepsico, T-Mobile US.FreitagLeverkusen – Explosive Stimmung – Hauptversammlung des Bayer-Konzerns. Die Übernahme des amerikanischen Agro-Riesen Monsanto unter dem früheren Vorstandschef hat sich als Desaster erwiesen.Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Südzucker, Nordex, Saab, Holcim, AbbVie.

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